Glomus-caroticum-Paragangliom (Glomustumor der Carotis): Ätiologie, Pathogenese, Klassifikation, Diagnostik, Behandlungsmethoden

Das Glomus-caroticum-Paragangliom (auch Chemodektom, Paraganglioma caroticum, Glomustumor der Carotis oder Carotis-Glomus-Tumor genannt) ist ein meist gutartiger, seltener Tumor, der von den Chemorezeptorzellen des Karotiskörperchens (Glomus caroticum) ausgeht, das im Bereich der Bifurkation der A. carotis communis liegt.

Glomus-caroticum-Paragangliom (Glomustumor der Carotis)
Glomus-caroticum-Paragangliom (Glomustumor der Carotis)

Epidemiologie

  • Ungefähr 1–2 Fälle pro 100.000 Einwohner.
  • Frauen sind häufiger betroffen als Männer. ​
  • Das Durchschnittsalter bei der Diagnosestellung liegt bei etwa 45 Jahren.
  • Eine hohe Prävalenz weisen die lateinamerikanischen Länder auf, insbesondere Mexiko, wo bis zu 90 % der Fälle auf Frauen entfallen.
  • Einwohner von Hochgebirgsregionen haben aufgrund des chronischen Sauerstoffmangels ein erhöhtes Risiko, an Glomustumoren der Carotis zu erkranken.

Ätiologie

Genetische Mutationen: Die Hauptrolle spielen Mutationen in Genen, die für Untereinheiten des Succinatdehydrogenase-Komplexes (SDH) kodieren, der an der mitochondrialen Atmungskette und dem Zellstoffwechsel beteiligt ist. Die wichtigsten Gene sind:

  • SDHD: am häufigsten mit multiplen Paragangliomen im Kopf- und Halsbereich verbunden; väterlicherseits übertragen.
  • SDHB: mit aggressiveren Formen und erhöhtem Risiko eines bösartigen Verlaufs verbunden.
  • SDHC, SDHA, SDHAF2: weniger häufig betroffen, aber möglicherweise ebenfalls an der Tumorentwicklung beteiligt.

Syndrome, die mit Glomus-caroticum-Paragangliom assoziiert sind:

  • Von-Hippel-Lindau-Syndrom (VHL-Syndrom).
  • Multiple endokrine Neoplasie, Typ 2 (MEN2).
  • Neurofibromatose, Typ 1 (NF1).

Chronische Hypoxie: Das Leben in einer Höhe von mehr als >2000 m über dem Meeresspiegel und Erkrankungen wie chronisch obstruktive Lungenkrankheit und angeborene Herzfehler können eine Hyperplasie des Glomus caroticum begünstigen.

Familienanamnese: Etwa 10 % der Fälle sind familiär bedingt.

Pathogenese

  1. Vererbte Mutationen (SDHx)

SDH-Mutationen (Schlüsselenzym des Komplexes II der mitochondrialen Atmungskette und des Zitratzyklus (Krebs-Zyklus)) → Anhäufung von Succinat (wirkt als „Onkometabolit“) → Inaktivierung von Prolyl-Hydroxylasen (PHDs): Enzyme, die den Abbau von HIF-1α kontrollieren (Hypoxie-induzierter Faktor) → Anhäufung von HIF-1α PseudohypoxieAktivierung von VEGF (Angiogenese) / GLUT1 (Glykolyse) / PDGF (Zellproliferation) → Neoplastische Transformation von Chemorezeptorzellen und Tumorbildung.

  1. Chronische Hypoxie

Hypoxie (Höhe, COPD) → Verringerung von pO₂ → Aktivierung von Karotisrezeptoren → Zellhyperplasie → HIF-1α-Anhäufung→ Angiogenese und Neoplasie

Dadurch wird der Tumor allmählich größer. Mit zunehmendem Wachstum kann er lokal invasiv werden und angrenzende anatomische Strukturen wie A. carotis interna und externa, N. vagus, N. hypoglossus und N. glossopharyngeus umschließen oder einklemmen, was zu neurologischen und vaskulären Symptomen führen kann.

Klassifikation von Glomus-caroticum-Paragangliomen

Nach W.R. Shamblin lassen sich Glomus-caroticum-Paragangliome in drei Typen einteilen:

  • Typ I: umschriebene Tumoren (kleiner als 3,5 cm), die locker mit den Arterienwänden verwachsen sind.
  • Typ II: Tumoren (zwischen 3,5 und 5 cm), die teilweise die Halsschlagadern umschließen und eine großflächigere Verwachsung mit den Arterienwänden aufweisen.
  • Typ III: Tumoren (größer als 5 cm), die die Halsschlagadern und/oder benachbarte Gefäße und Nerven völlig umschließen und eine ausgeprägt feste Verwachsung mit diesen Strukturen aufweisen.

Paragangliome können auch nach ihrer Ätiologie eingeteilt werden: sporadisch (bis zu 85 % der Fälle), familiär (hereditär) (10–15 % der Fälle), hyperplastisch (1–5 % der Fälle).

Glomus-caroticum-Paragangliom, Typ I
Glomus-caroticum-Paragangliom, Typ I: 3D-Modell
Glomus-caroticum-Paragangliom, Typ II
Glomus-caroticum-Paragangliom, Typ II: 3D-Modell

Symptome

Das Glomus-caroticum-Paragangliom kann über einen langen Zeitraum asymptomatisch verlaufen. Mit zunehmendem Wachstum des Tumors können Beschwerden auftreten:

  • Tastbarer Tumor: langsam wachsende, druckschmerzfreie, pulsierende Raumforderung an der Seitenfläche des Halses (im Bereich des Kopfnickers (Musculus sternocleidomastoideus))​.
  • Neurologische Symptome: Heiserkeit, Dysphagie, Taubheitsgefühl der Zunge, die durch die Kompression der Hirnnerven (IX-XII) verursacht wurden.
  • Beschwerden im Zusammenhang mit der Katecholaminausschüttung (Herzklopfen, episodischer Bluthochdruck, Schwitzen, Kopfschmerzen und Zittern).
  • Selten: Schwindel, Ohnmacht mit Kompression des Sinus caroticus.

Diagnostik von Glomus-caroticum-Paragangliomen

  • Körperliche Untersuchung: dichter, pulsierender Tumor am Hals, der sich horizontal, aber nicht vertikal bewegen lässt. ​
  • Doppler-Sonographie: hypervaskulärer Tumor im Bereich der Karotisbifurkation. ​
  • MRT mit Kontrastmittel: charakteristisches „Salz-und-Pfeffer“-Muster auf T1-gewichteten Bildern.
  • CT mit Kontrastmittel: Bestimmung des Grades der Gefäßinvasion, Bewertung der Shamblin-Klassifikation. ​Erstellung eines 3D-Modells für die Operationsplanung.
  • Angiographie: Nachweis des „Lyra-Zeichens“: Trennung der A. carotis interna und externa. Das Verfahren ermöglicht die Beurteilung der Notwendigkeit/Möglichkeit einer Embolisation in diesem Bereich als Vorstufe der Operation​.
  • 68Ga-DOTATATE-PET/CT: bei Verdacht auf multiple oder metastatische Herde.
  • Laboruntersuchungen: Plasma- und Urinwerte von Metanephrinen und Normetanephrinen bei Verdacht auf einen sezernierenden Tumor.
  • Gentests auf Mutationen in SDH-Genen bei familiärer Vorbelastung oder multiplen Tumoren.

Therapie

Die Behandlung eines Glomus-caroticum-Paraganglioms hängt von der Größe des Tumors, dem klinischen Bild, dem Risiko für Komplikationen, der funktionellen Aktivität, dem genetischen Profil und dem Shamblin-Typ ab. Zu den wichtigsten Behandlungsmethoden gehören die chirurgische Entfernung, die präoperative Embolisation und in ausgewählten Fällen die Strahlen- oder Chemotherapie.

  1. Präoperative Embolisation

Die präoperative Embolisation wird zur Verringerung der Vaskularisation des Tumors und des intraoperativen Blutverlusts sowie zur Erleichterung der Freipräparation des Tumors während der Operation eingesetzt.

Indikationen:

  • Tumoren nach Shamblin, Typ II–III.
  • Tumordurchmesser > 3 cm.
  • Vorliegen einer signifikanten arteriellen Durchblutung (laut CT/Angiographie).
  • Geplante Resektion mit Gefäßrekonstruktion.

Kontraindikationen:

  • Tumoren nach Shamblin, Typ I.
  • Keine arterielle Komponente (geringe Vaskularisation).
  • Anastomosen mit dem zerebralen Kreislauf: Risiko einer zerebralen Embolie.

Ablauf: Es wird eine selektive Angiographie der A. carotis externa durchgeführt. Über einen Mikrokatheter werden Embolisationsmittel injiziert: Polyvinylalkohol (PVA-Partikel),
Mikrosphären, weniger häufig Kleber oder Spiralen. Eine Kontrollangiographie bestätigt die Verringerung des Blutflusses. Die Operation wird innerhalb von 24–48 Stunden nach der Embolisation durchgeführt, solange die Wirkung anhält.

  1. Chirurgische Behandlung

Indikationen:

  • Symptomatische Tumoren (Schmerzen, Dysphagie, Sprachstörungen).
  • Schnelles Tumorwachstum.
  • Tumoren > 2,5–3 cm (auch asymptomatisch).
  • Durch PET oder klinische Chemie nachgewiesene Aktivität.
  • Nachgewiesene SDHB-Mutation (Risiko der Bösartigkeit).
  • Alter < 60 Jahre.

Arten der chirurgischen Behandlung:

  • Extrakapsuläre Tumorresektion. Standardtherapie für Tumoren vom Typ I-II nach Shamblin, Gefäßerhalt, minimales Risiko.
  • Resektion der A. carotis mit Rekonstruktion. Häufiger bei Tumoren vom Typ III nach Shamblin. Nach der Resektion eines Abschnitts der Halsschlagader wird eine Prothese (aus Dacron oder PTFE) eingesetzt.
  • Neuromonitoring und Mikrochirurgie. Diese Verfahren werden bei unmittelbarer Nähe zu Hirnnerven (IX-XII) eingesetzt.

Mögliche Komplikationen:

  • Blutungen (insbesondere bei unzureichender Embolisation).
  • Verletzung von Hirnnerven (IX-XII): bis zu 30 % bei großen Tumoren.
  • Schlaganfall (bei Beeinträchtigung des kollateralen Blutflusses).
  • Rückfall (selten, bei inkompletter Resektion).
  1. Chemotherapie

Dieses Verfahren ist keine Standardbehandlung für ein Glomus-caroticum-Paragangliom, da die meisten Tumoren langsam wachsen und von Natur aus gutartig sind. In seltenen Fällen eines bösartigen Verlaufs (schnelles Fortschreiten, metastasierende Läsionen) oder bei inoperablen metastasierenden Formen kann jedoch eine systemische Therapie eingesetzt werden.

  1. Radionuklidtherapie mit ¹⁷⁷Lu-DOTATATE (PRRT)

Diese Behandlungsmethode wird bei Vorliegen einer Somatostatinrezeptor-Expression eingesetzt, die durch PET mit ⁶⁸Ga-DOTATATE nachgewiesen wurde.

FAQ

1. Ist ein Glomus-caroticum-Paragangliom ein bösartiger Tumor?

Nein, in der Regel nicht. Das Glomus-caroticum-Paragangliom ist ein gutartiger, langsam wachsender Tumor. Bei Vorliegen von Mutationen im SDHB-Gen ist jedoch ein Malignitätspotential mit Metastasenbildung möglich.

2. Ist es möglich, einen Glomustumor der Carotis einfach zu überwachen, ohne ihn zu entfernen?

Ja, in einigen Fällen ist eine aktive Überwachung möglich, insbesondere wenn der Tumor klein (< 2,5 cm), asymptomatisch ist, bei einem älteren Patienten vorkommt oder wenn Kontraindikationen für eine Operation bestehen. Gibt es jedoch Anzeichen für ein Wachstum oder eine Kompression der Halsstrukturen, ist eine Behandlung erforderlich.

3. Ist ein chirurgischer Eingriff zur Entfernung eines Glomus-caroticum-Paraganglioms gefährlich?

Die Risiken hängen von der Größe und Lage des Tumors ab. Bei großen Raumforderungen sind Komplikationen wie Verletzung von Hirnnerven, Blutungen und ischämische Ereignisse möglich. Um die Risiken zu verringern, wird häufig eine präoperative Embolisation durchgeführt.

4. Ist es notwendig, dass andere Familienmitglieder untersucht werden, wenn bei mir ein Glomus-caroticum-Paragangliom diagnostiziert wurde?

Wenn bei Ihnen eine vererbte Mutation (z. B. von SDHD, SDHB) diagnostiziert wird, wird eine genetische Beratung und eine Untersuchung Ihrer nächsten Angehörigen empfohlen, da diese Krankheit familiär vererbt werden kann.

5. Wie unterscheidet man ein Glomus-caroticum-Paragangliom von anderen Halstumoren?

Ein Glomus-caroticum-Tumor befindet sich in der Regel an der Bifurkation der A. carotis communis, ist pulsierend, lässt sich horizontal, aber nicht vertikal verschieben und zeigt bei CT/MRT das charakteristische „Lyra-Zeichen“. Die Diagnose wird durch bildgebende Verfahren und Angiographie geklärt.

6. Kann ein Glomus-caroticum-Paragangliom Schmerzen oder Unwohlsein verursachen?

In den meisten Fällen nicht, vor allem nicht im Frühstadium. Allerdings kann der Tumor mit zunehmendem Wachstum Druck auf Nerven und Blutgefäße ausüben, was zu Schmerzen, Heiserkeit, Schluckbeschwerden oder Schwindelgefühl führen kann.

7. Besteht das Risiko eines Rückfalls nach der Tumorentfernung?

Wenn der Tumor vollständig entfernt wurde, ist das Risiko eines Rückfalls gering (weniger als 5 %). Bei unvollständiger Resektion, vererbter Form oder Vorliegen einer SDHB-Mutation ist jedoch ein Rezidiv oder die Entwicklung neuer Herde möglich. In solchen Fällen ist eine langfristige Überwachung wichtig.

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