Aortenklappeninsuffizienz: Ursachen, Pathophysiologie, Symptome, Schweregrade, Diagnostik und Behandlung
Inhaltsübersicht
Aortenklappeninsuffizienz (AKI) ist eine Herzerkrankung, bei der sich die Taschen nicht richtig schließen und ein pathologischer Blutrückfluss (Regurgitation) aus der Aorta in den linken Ventrikel des Herzens besteht.
Epidemiologie
- Die Aortenregurgitation (AR) ist die dritthäufigste Herzklappenerkrankung. Laut der Framingham-Studie liegt die Inzidenz bei Erwachsenen bei 4,9 %, wobei mittelschwere und schwere Formen bei 0,5 % der Menschen diagnostiziert werden.
- Männer sind häufiger betroffen.
- In den Industrieländern sind altersbedingte degenerative und atherosklerotische Veränderungen der Herzklappen die Hauptursachen der Erkrankung.
- In Ländern mit eingeschränktem Zugang zur medizinischen Versorgung sind Infektionskrankheiten wie rheumatisches Fieber und infektiöse Endokarditis nach wie vor die häufigsten Auslöser von Aortenklappenerkrankungen und können zu einer früheren Entwicklung der Klappenerkrankung führen, oft schon im Kindesalter.
- Aufgrund der Bevölkerungsalterung und der zunehmenden Prävalenz von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird die Belastung durch AR in den kommenden Jahrzehnten erwartungsgemäß zunehmen. Darüber hinaus ist es durch die Entwicklung echokardiographischer Untersuchungen möglich geworden, subklinische Formen der AR zu erkennen.


Ätiologie
- Degenerative Prozesse wie Verkalkung, Fibrose und Prolaps sind häufig mit einer Aortenstenose vergesellschaftet. Die infektiöse Endokarditis führt zur Zerstörung der Klappen, und rheumatisches Fieber verursacht deren Deformation und fortschreitende Regurgitation.
- Systemische Kranheiten des Bindegewebes (Marfan-Syndrom, Loeys-Dietz-Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom (vaskulärer Typ)) bewirken eine Aortendilatation und ein erhöhtes Dissektionsrisiko (Aortendissektion). Entzündliche Prozesse (Takayasu-Arteriitis, Granulomatose mit Polyangiitis) und Autoimmunerkrankungen (Lupus erythematodes, Antiphospholipid-Syndrom) lösen einen Aortenumbau und sekundäre AR aus.
- Erweiterung des Aortenrings im Zusammenhang mit Aneurysmen, Bluthochdruck und Bindegewebserkrankungen verursachen einen unzureichenden Verschluss der Klappentaschen. Prolaps, Redundanz der Taschen verhindern deren normalen Verschluss und verstärken die Regurgitation.
- AR kann auch bei paravalvulären Lecks nach Prothesenimplantation auftreten.


Pathophysiologie
Eine akute Aortenregurgitation tritt plötzlich auf, am häufigsten als Folge einer infektiösen Endokarditis, einer Aortendissektion oder eines Klappentraumas.
- Akute Volumenüberlastung und diastolischer Druckanstieg: Ein erheblicher Blutrückfluss in den LV während der Diastole führt zu einem akuten Anstieg des enddiastolischen Drucks (EDD). Dies verringert seine Compliance, erhöht die Belastung des linken Vorhofs und verursacht einen Blutstau im kleinen Kreislauf, der zu einem Lungenödem führt.
- Vermindertes effektives Herzzeitvolumen: Trotz der hyperdynamischen Arbeit des LV wird das meiste Blut dorthin zurückgeführt, was einen Blutdruckabfall, Organhypoperfusion und kardiogenen Schock zur Folge hat.
- Beeinträchtigung der Koronarperfusion: Ein hoher linksventrikulärer EDD reduziert den Druckgradient zwischen der Aorta und den Koronararterien, wodurch die Blutversorgung des Myokards verringert und eine Myokardischämie verursacht wird.
- Kompensatorische Reaktion: Die Aktivierung des sympathoadrenalen Systems verursacht Tachykardie und Vasokonstriktion in dem Versuch, die Herzleistung aufrechtzuerhalten. Dies erhöht jedoch die Nachlast und verschlimmert die Regurgitation.
Akute AR führt schnell zu Lungenödem, Hypotonie und Schock und erfordert einen chirurgischen Notfalleingriff.
Die chronische AR entwickelt sich allmählich, meist infolge von degenerativen Klappenveränderungen, bikuspider Aortenklappe, rheumatischem Fieber oder Aortendilatation. Das Herz hat Zeit, sich an die Volumenüberlastung anzupassen, aber auf Dauer sind die Kompensationsmechanismen erschöpft, was eine Dekompensation zur Folge hat.
- Ventrikuläre Hypertrophie: Eine anhaltende Volumenüberlastung bewirkt eine LV-Dilatation mit gleichzeitigem Myozytenwachstum zur Aufrechterhaltung eines normalen Herzzeitvolumens.
- Zunehmende LV-Dilatation: In fortgeschrittenen Stadien verlieren die LV-Wände aufgrund der chronischen Zunahme des LV-Volumens an Elastizität, was die Auswurffraktion verringert und eine systolische Dysfunktion zur Folge hat. Der enddiastolische linksventrikuläre Durchmesser übersteigt 70 mm.
- Beeinträchtigter koronarer Blutfluss: Der vergrößerte linke Ventrikel benötigt mehr Sauerstoff, aber ein verminderter diastolischer Aortendruck verschlechtert die myokardiale Perfusion und trägt zur Ischämie bei.
- Hämodynamische Veränderungen: Ein niedriger diastolischer Druck (< 50 mmHg) verringert den koronaren Blutfluss, und die chronische Überlastung des Lungenkreislaufs erhöht den Druck im linken Vorhof und in den Pulmonalvenen.
- Herzinsuffizienz: Mit dem Fortschreiten der Krankheit kommt es zu einer Stauung im kleinen und großen Kreislauf, begleitet von Dyspnoe, Orthopnoe, paroxysmaler nächtlicher Dyspnoe sowie peripheren Ödemen und Hepatomegalie.
Klinik
Die akute AR äußert sich in einer raschen Verschlechterung des Zustandes.
- Plötzlich treten Dyspnoe und Lungenödem auf, gefolgt von Orthopnoe und Erstickungsanfällen.
- Schwergradige Hypotonie und kardiogener Schock werden durch einen starken Abfall der Herzleistung verursacht, der sich durch Schwäche, Schwindel und Bewusstseinsstörungen bemerkbar macht.
- In einigen Fällen von infektiöser Endokarditis können Fieber, Schüttelfrost und Anzeichen einer Septikämie auftreten.
Die chronische AR bleibt aufgrund der Anpassung des linken Ventrikels an die Volumenüberlastung lange Zeit asymptomatisch.
- Mit dem Fortschreiten der Krankheit kommt es zu Herzklopfen und erhöhter Pulsation, insbesondere in Rückenlage, bedingt durch ein erhöhtes Schlagvolumen und eine hohe Pulsdifferenz.
- Die Patienten können über ein ruckartiges Gefühl im Kopf- und Halsbereich klagen, das auf eine verstärkte Pulsation der großen Arterien zurückzuführen ist.
- Mit der Zeit entwickelt sich eine Dyspnoe bei körperlicher Anstrengung. In schweren Fällen kommt es zu anhaltender Dyspnoe, begleitet von nächtlichen Erstickungsanfällen, die Symptom einer Stauungslunge sind.
- Herzschmerzen treten bei einigen Patienten auf und sind Folge einer verminderten Koronarperfusion aufgrund eines niedrigen diastolischen Drucks. Die Angina pectoris bei AR tritt eher nachts auf, wenn die Herzfrequenz geringer ist.
- Im fortgeschrittenen Stadium treten zunehmend Symptome einer Herzinsuffizienz auf, einschließlich peripherer Ödeme, Hepatomegalie und Aszites.
Diagnostik
- Transthorakale Echokardiographie (TTE): Ein wichtiges Verfahren zur Bestätigung der Diagnose AR, zur Beurteilung der Morphologie der Aortenklappe, des Grades der Regurgitation, der Größe und Funktion des linken Ventrikels und der Aortengröße.
Kriterien für hochgradige AR gemäß TTE: Vena contracta > 6 mm; diastolischer Blutrückfluss in der absteigenden Aorta. Regurgitationsvolumen > 60 ml pro Zyklus. Regurgitationsfraktion > 50 %. EROA („effective regurgitant orifice area“) ≥ 0,30 cm².
Schweregrade der Aorteninsuffizienz nach TTE
Parameter | Leichtgradige AR (Grad I) | Mittelgradige AR (Grad II) | Hochgradige AR (Grad III) |
---|---|---|---|
Vena contracta | < 3 mm | 3-6 mm | > 6 mm |
Regurgitationsvolumen | < 30 ml | 30-60 ml | > 60 ml |
Regurgitationsfraktion | < 30% | 30-50% | > 50% |
EROA („effective regurgitant orifice area“) | < 0,10 cm² | 0,10-0,30 cm² | ≥ 0,30 cm² |
Diastolischer Blutrückfluss | Fehlt | Vorhanden, aber nicht in der absteigenden Aorta | Blutrückfluss in der absteigenden Aorta |
- Transösophageale Echokardiographie (TEE) empfiehlt sich, wenn die TTE nicht ausreichend aussagekräftig ist, insbesondere bei Verdacht auf infektiöse Endokarditis oder wenn ein chirurgischer Eingriff geplant ist.
- Magnetresonanztomographie (MRT): selten, kann aber zur Beurteilung des Regurgitationsvolumens und der LV-Funktion herangezogen werden, insbesondere wenn die Echokardiographie nur begrenzte Daten liefert.
- Computertomographie (CT): zur detaillierten Beurteilung der Größe und des Zustands der Aorta, insbesondere bei Verdacht auf eine Erweiterung oder ein Aneurysma und für die Wahl des chirurgischen Zugangs.
- Elektrokardiographie (EKG): hilft bei der Erkennung von Anzeichen einer LV-Hypertrophie und anderen assoziierten Anomalien.
- Röntgen Thorax: kann eine Vergrößerung des Herzens und eine Stauungslunge anzeigen.
Therapie der Aortenklappeninsuffizienz
Änderung von Risikofaktoren
- Blutdruckkontrolle, da eine systemische Hypertonie die Dilatation der Aortenwurzel begünstigt und die Koaptation der Klapptentaschen verschlechtert.
- Korrektur der Hyperlipidämie, Raucherentwöhnung und Gewichtskontrolle.
- Regelmäßige körperliche Aktivität von mäßiger Intensität verbessert die Herzfunktion, aber intensives Krafttraining und Sport mit hoher statischer Belastung (z. B. Gewichtheben) sind bei schwerer AR kontraindiziert.
Medikamentöse Therapie
- Eine blutdrucksenkende Therapie ist bei arterieller Hypertonie und Aortendilatation angezeigt; ACE-Hemmer und AT1-Antagonisten (ARB) sind am wirksamsten bei der Verringerung der LV-Nachlast und der Dilatation.
- Bei Patienten mit Marfan-Syndrom werden Betablocker oder Calciumantagonisten bevorzugt, um die Aortenerweiterung zu verlangsamen.
- Diuretika werden bei kongestiver Herzinsuffizienz eingesetzt, um die Arbeitslast des Herzens zu verringern.
- Betablocker werden bei Aortendilatation eingesetzt, sind aber bei isolierter schwergradiger AR ohne Bluthochdruck kontraindiziert, da sie die Hämodynamik verschlechtern können.
- Vasodilatatoren werden in begrenztem Umfang in Einzelfällen von symptomatischer AR mit hohem Gefäßwiderstand verabreicht.
Transkatheter-Aortenklappenimplantation (TAVI)
Kommt häufig bei Aortenstenose zum Einsatz, ist aber bei isolierter AR nur begrenzt einsetzbar. Dies ist auf anatomische Besonderheiten zurückzuführen: Fehlende Verkalkung der Klappentaschen verringert die Stabilität der implantierten Prothese, was das Risiko von paravalvulären Lecks und Klappenverlagerungen erhöht.
- Kontraindikationen für eine TAVI bei AR: isolierte AR ohne Taschenverkalkung; signifikante Aortenwurzelerweiterung, die die Prothesenfixierung instabil macht.
Operative Behandlung
Die chirurgische Korrektur ist nach wie vor die Standardtherapie bei schwergradiger AR, insbesondere bei Patienten mit Symptomen oder Anzeichen einer LV-Dysfunktion.
Ein chirurgischer Aortenklappenersatz ist angezeigt bei:
- Symptomatischer schwergradiger AR.
- Asymptomatischer schwergradiger AR mit LVEDD > 70 mm, LVESD > 50 mm bzw. EF < 50 %.
- Eine Operation der aufsteigenden Aorta wird bei ausgeprägter Aortendilatation (> 55 mm, bei Marfan-Syndrom > 50 mm) durchgeführt.
Es stehen mechanische und biologische Herzklappen zur Verfügung. Die Wahl richtet sich nach dem Alter des Patienten, dem Vorhandensein von Kontraindikationen für Antikoagulanzien und Komorbiditäten.
- Aortenklappenrekonstruktion und klappenerhaltende Operationen
Rekonstruktive Eingriffe werden bei Patienten mit Aortenregurgitation infolge eines Taschenprolapses, einer lokalen fibrotischen Deformation oder einer Aortenwurzelerweiterung vorgenommen. Die wichtigsten Verfahren sind:
- Resektion und Plikation der Taschen wird bei Taschenprolaps eingesetzt, der durch Verkürzung und Fixierung der Tasche korrigiert wird.
- Rekonstruktion der Taschen mit Autoperikard oder tierischem Perikard bei starker Verformung der Taschen, wenn diese ohne Klappenersatz wiederhergestellt werden müssen.
- Klappenerhaltende Operationen werden bei jüngeren Patienten bevorzugt, da sie eine lebenslange gerinnungshemmende Therapie ersparen. Sie erfordern jedoch anatomisch erhaltene Taschen und haben strengere Indikationen.
David-Operation: Die Aortenklappe wird in eine künstliche Gefäßprothese reimplantiert, die die Taschen fixiert, so dass sie bei der Aortenwurzeldilatation nicht auseinandergehen.
Verfahren nach Yacoub: Umbau der Aortenwurzel mit Ersatz ihres erweiterten Teils durch eine Gefäßprothese ohne Fixierung des Faserrings, wobei die native Aortenklappe erhalten bleibt.
FAQ
1. Was versteht man unter einer Aortenklappeninsuffizienz?
2. Gibt es eine angeborene Aortenklappeninsuffizienz?
• Bikuspidale Aortenklappe (die häufigste angeborene Anomalie, die zu Regurgitation neigt);
• Fehlbildungen der Klappentaschen (unzureichender Verschluss durch Verkürzung oder Verformung);
• Bindegewebssyndrome (Marfan, Ehlers-Danlos), bei denen eine Erweiterung der Aorta und des Klappenbereichs möglich ist.
Die angeborene Form schreitet oft langsam voran, erfordert aber eine regelmäßige Überwachung, da im Laufe der Zeit eine chirurgische Korrektur erforderlich sein kann.
3. Was sind die Symptome der Aorteninsuffizienz?
• Akute AR: starke Dyspnoe, Lungenödem, Schwäche, Hypotonie, Schock (erfordert Notfallbehandlung);
• Chronische AR:
- Frühstadien: asymptomatischer Verlauf oder Herzklopfen, Pulsation im Nacken/Kopf;
- Fortschreiten: Belastungsdyspnoe, Angina pectoris (infolge einer verminderten Koronardurchblutung), nächtliche Erstickungsanfälle;
- Dekompensation: Ödeme, Lebervergrößerung, verminderte Toleranz gegenüber körperlicher Aktivität.
4. Wie sieht ein typischer Auskultationsbefund bei Aortenklappeninsuffizienz aus?
5. Was sind die Empfehlungen bei der Aorteninsuffizienz?
• Regelmäßige Untersuchungen: Echokardiographie 1–2 Mal jährlich zur Verlaufskontrolle;
• Körperliche Aktivität: mäßige Belastung (Spaziergänge, Schwimmen), kein Krafttraining;
• Endokarditis-Prophylaxe: Antibiotikaprophylaxe vor zahnärztlichen/chirurgischen Eingriffen (je nach Indikation);
• Chirurgische Behandlung: bei Symptomen oder Anzeichen einer linksventrikulären Dysfunktion (EF < 50 %, EDD > 70 mm).
Nota bene: Bei der asymptomatischen Form ist eine Beobachtung erforderlich. Wenn die Erkrankung aber symptomatisch wird, ist eine rechtzeitige Einweisung zu einem Kardiologen erforderlich, damit eine Operation in Erwägung gezogen werden kann.
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